Zeugnistag
Ich denke, ich muss so zwölf Jahre alt gewesen seinUnd wieder einmal war es ZeugnistagNur diesmal, dacht ich, bricht das Schulhaus samt Dachgestühl einAls meines weiß und häßlich vor mir lagDabei waren meine Hoffnungen keineswegs hochgeschraubtIch war ein fauler Hund und obendreinHöchst eigenwillig, doch trotzdem hätte ich nie geglaubtSo ein totaler Versager zu sein
So, jetzt ist es passiert, dacht ich mir, jetzt ist alles ausNoch nicht mal eine vier in ReligionOh Mann, mit diesem Zeugnis kommst Du besser nicht nach HausSondern allenfalls zur FremdenlegionIch zeigt es meinen Eltern nicht und unterschrieb für sieSchön bunt, sah nicht schlecht aus, ohne zu prahlenIch war vielleicht ne Niete in Deutsch und BiologieDafür konnt ich schon immer ganz gut malen
Der Zauber kam natürlich schon am nächsten Morgen rausDie Fälschung war wohl doch nicht so geschicktDer Rektor kam, holte mich schnaubend aus der Klasse rausSo stand ich da, allein, stumm und geknicktDann ließ er meine Eltern kommen, lehnte sich zurückVoll Selbstgerechtigkeit genoß er schonDie Maulschellen für den betrüger, das mißratene StückDiesen Urkundenfälscher, ihren Sohn
Mein Vater nahm das Zeugnis in die Hand und sah mich anUnd sagte ruhig: "Was mich anbetrifftSo gibt es nicht die kleinste Spur eines Zweifles daranDas ist tatsächlich meine Unterschrift"Auch meine Mutter sagte, ja, es sei ihr NamenszugGekritzelt zwar, doch müsse man verstehenDass sie vorher zwei große, schwere Einkaufstaschen trugDann sagte sie: "Komm, Junge, laß uns gehen."
Ich hab noch manches lange Jahr auf Schulbänken verlorenUnd lernte widerspruchslos vor mich hinNamen, Tabellen, Theorien von hinten und von vornDass ich dabei nicht ganz verblödet binNur eine Lektion hat sich in den Jahren herausgesiebtDie eine nur aus dem Haufen Balast:Wie gut es tut, zu wissen, dass Dir jemand Zuflucht gibtGanz gleich, was Du auch ausgefressen hast
Ich weiß nicht, ob es rechtens war, dass meine Eltern michDa rausholten, und wo bleibt die Moral?Die Schlauen diskutieren, die Besserwisser streiten sichIch weiß es nicht, es ist mir auch egalIch weiß nur eins, ich wünsche allen Kindern auf der WeltUnd nicht zuletzt natürlich Dir, mein KindWenn's brenzlig wird, wenn's schiefgeht, wenn die Welt zusammenfälltEltern, die aus diesem Holze sindEltern, die aus diesem Holz geschnitten sind